Seit einiger Zeit wird immer wieder versucht, sog. Self-Service-Portale und Apps als “Heilsbringer” im modernen Kundenservice zu verkaufen. Unbestritten ist, dass diese Entwicklungen positiv für den Kunden sind und ihm viele Vorteile bringen. Allerdings ist mehr als fraglich, ob sie das Potenzial haben, die kompexen Service Center Dienstleistungen vollständig zu ersetzen oder eben nur eine weitere Möglichkeit für den Kunden darstellen, den Service zu erhalten, den er sich wünscht. Im Kurzinterview bezieht Alexander Jünger, stv. Chefredakteur des Fachmagazins CallCenterProfi, hierzu Position.

Herr Jünger, Sie haben einen viel beachteten Kommentar mit dem Titel “Warum Call Center den Apps überlegen sind” geschrieben. Was war der Auslöser?

„Ehrlich gesagt gab es keinen konkreten Auslöser dafür, sondern gleich mehrere. Ich erinnere mich an Schlagzeilen wie “Apps schießen Call Center ab” oder “Call Center ade! Wie die Branche auf myTaxi reagiert”, die undifferenziert Apps als Heilbringer gegenüber Call Centern darstellen. Ich wehre mich gegen eine derartig eingeschränkte Sichtweise. Der Kunde beziehungsweise der Anwender entscheidet über den Weg der Kontaktaufnahme. Manchmal sind das sicherlich Apps, weil sie im konkreten Anwendungsfall einfach Sinn ergeben. Bei komplexen Anforderungen jedoch bedarf es immer noch eines Ansprechpartners aus Fleisch und Blut. Andererseits machen manchmal auch infrastrukturelle Engpässe diese Multichannel-Kommunikation notwendig.“

Haben Sie ein Beispiel dafür?

„Ja, ein real erlebtes. Im letzten Jahr besuchte ich die Veranstaltung ‚Erfolgreiches Callcenter‘ in Hanau. Wegen der vielen interessanten Gespräche verpasste ich die im Vorfeld gebuchte Verbindung zurück nach Wiesbaden und wollte mich über eine alternative Verbindung kundig machen. Leider hatte mein Provider (Name ist natürlich bekannt °_^) an diesem Tag Probleme mit der Netzabdeckung in Hanau, so dass die gewohnte DB-Reise-App der Deutschen Bahn nicht nutzbar war. In diesem Fall war ich doch froh, das Call Center der Bahn kontaktieren und im Vorfeld meiner Fahrt zum Hauptbahnhof meine neue Reiseverbindung telefonisch abfragen zu können. So konnte ich die Zeit vor Ort optimal ausnutzen. Dieser Fall betraf einen technischen Ausfall seitens meines Mobilfunk-Providers. Es gibt aber auch Landstriche, in denen es generell mit der Abdeckung von mobilem Internet nicht ganz so rosig aussieht. Hier lobe ich mir immer die mindestens zwei Balken Empfangsleistung ins Telefonnetz, die mir Infos via Voice – und das sind in den meisten Fällen nun mal Call Center – ermöglichen.“

Schießen Apps nun die Call Center ab oder doch eher umgekehrt?

„Weder das eine, noch das andere wird passieren! Aus meiner Sicht und Erfahrung sind ‚Komplexität‘ und ‚Verfügbarkeit‘ aktuell die begrenzenden Faktoren einer, nennen wir sie: ‚Only-App-Servicelandschaft‘. Das waren sie allerdings schon vorher bei der Entwicklung von Self Services im Internet. Außerdem stört mich persönlich die veraltete Sichtweise auf die Call Center. Ein ‚Call‘ wird immer nur mit einem ‚Anruf‘ gleich gesetzt. In der CallCenterProfi-Redaktion verstehen wir einen ‚Call‘ schon seit längerem als ‚Kontakt‘. Es gibt heute Call Center, die klassische Kanäle ebenso bespielen, wie Social Media-Netzwerke. Und es gibt heute (immer noch, und demografisch zunehmend) die Generation, die jenseits von mobilen Internetflats ihr Dasein fristet. So lange dies der Fall ist, haben klassische Call Center ihre Daseinsberechtigung. Wenn diese Zeit vorbei ist, haben hoffentlich alle Call Center erkannt, dass ein ‚Call‘ nicht als ‚Anruf‘, sondern als ‚Kontakt‘ begriffen werden muss!“